Bei etwa fünf Prozent aller Krebserkrankungen liegt eine genetische bzw. erbliche Ursache vor. Wenn sich Krebs in einer Familie häuft und/oder die Erkrankten zudem noch jung sind, könnte eine vererbbare Genmutation vorliegen. Prof. Dr. med. Stefan Aretz vom Institut für Humangenetik am Zentrum für erbliche Tumorerkrankungen des Universitätsklinikums Bonn erklärt, was Familien tun sollten, wenn sie den Verdacht einer familiären Vorbelastung haben und warum die Krebsfrüherkennung hier besonders wichtig ist.
Humangenetiker
Universitätsklinikum Bonn
Prof. Dr. Stefan Aretz, was sollte ich tun, wenn ich vermute, dass bei mir ein Risiko zu erblich bedingtem Krebs besteht?
Sie, aber vor allem auch Ihr Haus- oder Facharzt, sollten erste Hinweise ernstnehmen. Tritt ein Tumor, der typischerweise eigentlich erst im Alter entsteht, in jungem Alter auf, ist das ein Grund, hellhörig zu werden. Oder wenn bei einer Person im Laufe des Lebens unabhängig voneinander mehrmals Krebserkrankungen diagnostiziert wurden oder in der Familie eine Häufung von Krebserkrankungen vorliegt. Dann sollte Sie Ihr Haus- oder Facharzt in eine humangenetische Sprechstunde schicken oder an ein Zentrum für erbliche Tumorerkrankungen überweisen. Verhärtet sich dort der Verdacht, kann sich gegebenenfalls eine genetische Analyse anschließen.
Welche besondere Rolle spielen hier die Krebsfrüherkennungsuntersuchungen?
Liegt eine erbliche Tumorerkrankung in der Familie vor, haben die Betroffenen oft ein deutlich erhöhtes Risiko für ein bestimmtes Spektrum von Tumoren. Für die häufigeren erblichen Krebserkrankungen wurden deshalb spezielle Krebsvorsorge- bzw. Früherkennungs-Programme entwickelt, um die Patienten früher und engmaschiger zu überwachen. Die empfohlenen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen sind dementsprechend anders angelegt – bei einem erhöhten Brustkrebsrisiko beginnen die intensiven Brustgewebsscreenings nicht erst mit 55 Jahren, sondern vielleicht schon mit 25. Auch ihr Rhythmus erhöht sich, von alle zwei Jahre auf halbjährliche Checks. Gleichzeitig ändern sich die Untersuchungsmethoden. Bei familiärem Brustkrebs kommen bei jüngeren Frauen ein empfindlicher Ultraschall oder MRT statt Mammografie zum Einsatz, auch um die Röntgenbelastung niedrig zu halten. Die engmaschigen Vorsorgeuntersuchungen sind eine Sache, die andere sind vorbeugende operative Maßnahmen wie die Entfernung des Brustdrüsengewebes oder der Eierstöcke, letzteres in der Regel nach Abschluss der Familienplanung. Wichtig ist eine individuelle und kompetente Beratung durch Experten der Humangenetik und der entsprechenden Fachgebiete wie der Gynäkologie. Eine interdisziplinäre Versorgung findet zum Beispiel in Zentren für erbliche Tumorerkrankungen oder, bei erblichem Brustkrebs oder erblichem Darmkrebs, in den Zentren des Deutschen Konsortiums familiärer Brust- und Eierstockkrebs bzw. familiärer Darmkrebs statt.
Selbst Menschen ohne erbliche Vorbelastung haben häufig großen Respekt vor Krebsvorsorgeuntersuchungen, Stichwort „Aufschieberitis“. Haben Menschen, die wissen, dass sie zu einer Hochrisikogruppe gehören, nicht noch viel mehr Angst?
Das ist wirklich sehr unterschiedlich. Manche Patienten aus Familien mit sehr vielen Krebserkrankungen in jungen Jahren sind tatsächlich regelrecht traumatisiert und wollen nichts von Krebsfrüherkennung wissen. Nach dem Motto: Lieber im Hier und Jetzt leben, ich kriege es oder nicht, das kann ich eh nicht beeinflussen. Und das ist leider, insbesondere bei den Krebsarten mit sehr wirksamen Früherkennungsmethoden wie Darmkrebs und Brustkrebs, die falsche Strategie, denn hier können wir den Krebs tatsächlich früh erkennen, beim Darmkrebs sogar schon die gutartigen Vorstufen erfassen, und ihm so früh entgegenwirken. Es gibt aber auch Familien, die mit ihrem hohen Risiko sehr eigenverantwortlich und positiv umgehen und aktiv an den Programmen teilnehmen. Bei großer Angst vor dem Ergebnis des Gen-Tests oder vor Früherkennungsuntersuchungen kann in den Kompetenzzentren auch eine psychoonkologische Betreuung angeboten werden. Aber: Die genetische Untersuchung ist immer eine freiwillige Entscheidung. Damit es eine informierte und bewusste Entscheidung ist, empfehlen wir allerdings die Einschätzung der persönlichen und familiären Situation und die Beratung beim Spezialisten.
Wie kann ich ein so angstbesetztes Thema innerhalb der Familie gut ansprechen und für Dialog sorgen?
Das hängt stark davon ab, wie angstbesetzt das Thema für den Einzelnen ist und wie die Gesprächskultur in der Familie generell geprägt ist – von Tabus oder von einem offenen Austausch? In manchen Familien gibt es ja auch Zerwürfnisse – da hat man sich vielleicht 20 Jahre nicht gesehen und dann ist es natürlich schwer, gerade über das Thema Krebs oder Vererbung wieder ins Gespräch zu kommen. Hilfreich sind da zum Beispiel vorformulierte Briefe mit aufklärenden Details, die innerhalb der Familie verschickt werden können, verbunden mit dem Angebot, eine humangenetische Sprechstunde aufzusuchen.
Wie weit reicht der Familienbegriff in Bezug auf genetisch bedingte Krebserkrankungen?
Wir gucken uns im Rahmen der Sprechstunde routinemäßig drei bis vier Generationen an: Großeltern, Eltern, erwachsene Kinder, aber auch Cousins und Cousinen oder Tanten und Onkel. Aber: Je weiter wir uns von der Kernfamilie entfernen, desto ungenauer werden natürlich die Informationen zu den Krebserkrankungen der Angehörigen. Auf dieser Basis können wir eine Empfehlung abgeben, wer sich in einer Sprechstunde vorstellen und gegebenenfalls auch genetisch untersuchen lassen sollte. Ist eine genetische Ursache bei einem Erkrankten gefunden, können sich die gesunden Risikopersonen der Familie auf die Veränderung testen lassen. Wird die Mutation dann ausgeschlossen, ist die Person entlastet. Wenn dann zum Beispiel feststeht, dass der Krebs von der Familie mütterlicherseits vererbt wird, können wir auch direkt die ganze väterliche Seite ebenfalls entlasten, was vor allem auch eine psychische Befreiung bedeutet.
Und wie gelingen Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Dokumentation über Generationen hinweg?
Das ist tatsächlich oft ein Problem. Wir erheben im Rahmen der Sprechstunde die Familiengeschichte, aber die Daten sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Viele Patienten haben nicht den Überblick über eigene spezielle Befunde und schon gar nicht über die Erkrankungen ihrer Verwandten. Gut wäre es, wenn jeder Patient das Aushändigen relevanter ärztlicher Unterlagen an ihn selbst aktiv einfordern würde. Das würde auch die Stille-Post-Effekte in den Krankheitsgeschichten einer Familie ein wenig reduzieren helfen. Aber: Wir nehmen hier alle Informationen auf und speichern sie auf Wunsch der Patienten bis zu 30 Jahre, damit sie später noch einmal darauf zugreifen können. Sehr hilfreich wäre eine sehr viel höhere Aufmerksamkeit für das Thema in der breiten Bevölkerung. Viel häufiger als eine klar erbliche Erkrankung findet man eine familiäre Häufung von zum Beispiel Darmkrebs in der Familie, ohne eine genetische Ursache zu identifizieren. Auch hier kann ein erhöhtes Risiko für nahestehende Verwandte bestehen und eine intensivierte, modifizierte Krebsfrüherkennung kann mitunter Leben retten. Die wichtigste Maßnahme zur Auffindung von Risikofaktoren ist hier die Erhebung der Familiengeschichte, für die im Alltag oft zu wenig Zeit bleibt.
Rund fünf Prozent aller Krebserkrankungen sind erblich bedingt. Das Risiko, bei einer erblichen Vorbelastung tatsächlich an Krebs zu erkranken, ist je nach Krebsart unterschiedlich hoch. Beim erblichen Darmkrebs kann es bis zu 80 Prozent betragen. Bei Gebärmutterkrebs liegt es bei 40 Prozent und bei familiärem Brust- und Eierstockkrebs (Brustkrebsgenmutationen BRCA1/BRCA2) beträgt die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, 60 bis 80 Prozent. In 30 bis 40 Prozent der Fälle mit einer Mutation in den Genen BRCA1 oder BRCA2 kommt es zu Eierstockkrebs. Menschen mit einer genetischen Disposition zu Krebs haben zudem ein generell erhöhtes Krebsrisiko.
Wird im Rahmen einer humangenetischen Sprechstunde ein erhöhtes Krebsrisiko bestätigt, kann bei den (gesunden) Risikopersonen der Familie anschließend auf freiwilliger Basis ein Gentest durchgeführt werden, meist aber erst bei Volljährigkeit. Bei gesetzlich Versicherten übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen in der Regel die Kosten dafür.
Letzte Änderung: 06.10.2023
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