Die Psyche stellt uns ein Bein, wenn es um potenziell lebensbedrohliche und damit angstmachende Themen geht. Sie kann uns davon abhalten, regelmäßig Früherkennungstermine wahrzunehmen. Und das, obwohl diese Termine eigentlich für ein Gefühl der Sicherheit statt der Unsicherheit sorgen sollen. Psychosomatiker Prof. Dr. Martin Teufel erklärt die psychologischen Mechanismen dahinter.
Chefarzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Prof. Dr. Teufel, die Krebsvorsorge hat sich in vielen Krebsarten als sehr wirksam und sinnvoll erwiesen – weshalb sie im Fall von Brustkrebs-, Prostatakrebs- und Hautkrebs-Früherkennungsuntersuchungen von gesetzlich Krankenversicherten kostenlos in Anspruch genommen werden kann. Warum ist sie bei vielen trotzdem so unbeliebt?
Es ist die Psyche, die dabei immer eine große Rolle spielt: Sobald das Thema Krebsfrüherkennungsuntersuchung im Raum steht, sieht sich jeder innerlich mit dem Risiko konfrontiert, Krebs zu bekommen oder Krebs zu haben. Es ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit. Der muss sich niemand stellen, der sich mit der eigenen Krebsvorsorge nicht beschäftigt. Und selbst bei Patienten mit einem Befund, die vielleicht sogar schon Symptome haben, gibt es welche, die den Arztbesuch und die Therapie ganz lange herauszögern, einfach aus dem Gedanken heraus: Ich will gar nicht krank sein.
Wie ist die Akzeptanz der Brustkrebsfrüherkennungs-Angebote?
Bei der Brustkrebsvorsorge gibt es grundsätzlich mehr Offenheit – weil Brustkrebs potenziell auch schon jüngere Menschen treffen kann und es eine relativ häufig vorkommende Krebsart ist. Dennoch gibt es Menschen, die genau deshalb Angst vor einer Früherkennungsuntersuchung mit „ungewissem“ Ausgang haben, eben weil sie Brustkrebserkrankte persönlich kennen. Die anderen gehen, ganz im Gegenteil, aus einer höher motivierten Sorge erst recht zur Früherkennung.
Wie ist es bei Prostatakrebs?
Der tritt häufig erst bei Männern über 70 auf. Deshalb denken sich viele jüngere Männer: „Warum soll ich da jetzt schon zur zur Prostatakrebsfrüherkennung gehen?“
Ist das Hautkrebs-Screening akzeptierter, etwa weil der Anstieg an Hautkrebserkrankungen eine höhere mediale Aufmerksamkeit hat?
Beim Hautkrebs beobachtet der Patient häufig selbst eine Hautveränderung. Das kann ein Anlass sein, zum Hautkrebsscreening zu gehen. Andere wiederum verweigern sich dem Hautkrebs-Screening, weil sie denken: „Ach, das wird schon nichts Ernstes sein.“ Oder: „Wenn ich nicht zur Vorsorge gehe, habe ich auch nichts.“ Hier kann auch das Schuldthema zum Tragen kommen: Jeder weiß, dass das intensive Sonnenbaden ohne ausreichenden oder ganz ohne Sonnenschutz die Wahrscheinlichkeit erhöht, an Hautkrebs zu erkranken. Wer das in der Vergangenheit bewusst oder unbewusst ignoriert hat und dann eine Hautveränderung bei sich feststellt, hat häufig auch ein Problem mit der eigenen „Schuld“.
Aufgeklärte Patienten wissen, dass Früherkennung schlimme Verläufe verhindern kann – warum kann sich die Vernunft dennoch häufig nicht durchsetzen?
Dahinter steht das psychologische Motiv des kurzfristigen bzw. langfristigen Denkens. Die Neigung unserer Psyche zu kurzfristigem Denken überlagert die rationale Erkenntnis, dass in der Langfristigkeit die größeren Chancen liegen. Die langfristige Motivation „Ich halte mich gesund“ hat hier das Nachsehen gegenüber dem „Ich muss einen Termin machen. Ich muss mich beim Arzt ausziehen. Ich werde mit der Frage konfrontiert: Habe ich etwas oder habe ich nichts?“ Gäbe es hingegen die psychologische Garantie für einen kurzfristigen, positiven Effekt bei der Wahrnehmung von Krebsfrüherkennungsterminen, würden das viel mehr Menschen machen.
Welchen Vorteil bringt es für unsere Psyche, wenn wir emotional schwierige Situationen verdrängen?
Jeder neigt zur Verdrängung unangenehmer Dinge – das hilft uns, relativ unbeschwert durchs Leben zu gehen. Ein gewisses Maß an Verdrängung ist gut. Geht es aber in Richtung des vollständigen Ignorierens, zum Beispiel eines offensichtlichen Melanoms, wird solch ein psychischer Mechanismus kritisch.
Kann eine Art „Schockkonfrontation“, also die direkte Konfrontation mit dem eigenen Tod, helfen?
Solch eine „Schockkonfrontation“ ist auch nicht zuträglich. Denn wir sehen zwar, dass die Menschen durch die gestiegenen Lebensalter immer häufiger Krebs haben und letztendlich auch daran sterben. Aber wenn wir das zu stark thematisieren, lösen wir womöglich einen Fatalismus aus, der die Patienten hoffnungslos macht und ihnen das Motiv nimmt, zur Krebsvorsorge zu gehen. Aus dem Schock resultiert zudem bei vielen Angst, die wiederum einen Lähmungseffekt haben kann. Auch Geschichten aus dem nahen Umfeld wie „Ich bin immer zur Prostatakrebs-Früherkennungsuntersuchung gegangen – und jetzt habe ich trotzdem Krebs bekommen“, helfen nicht. Emotionen, Vorerfahrungen, Arzterlebnisse und das eigene Umfeld wiegen immer schwerer in der menschlichen Psyche als rationale Zahlen, Daten, Fakten. Dennoch ist die Aufklärung sehr wichtig: Aufzuzeigen, was Vorsorge wirklich bringt und wie viele Tumorerkrankungen und schwere Verläufe durch eine rechtzeitige und regelmäßige Früherkennungsuntersuchung abgemildert oder geheilt werden können.
Was also ist ein guter, akzeptabler Weg?
Es ist wichtig, das Gefühl zu vermitteln, eine unkontrollierbare Krankheit wie den Krebs durch die Früherkennungsuntersuchungen zumindest so weit unter Kontrolle zu bekommen, dass der Krebs behandelbar ist. Die menschliche Psyche mag es nämlich gar nicht gern, wenn sie keine Kontrolle hat. Und deshalb vermeidet sie es auch, in einen Zustand der Angst zu kommen. Diese Angst ließe sich mit der Wahrnehmung des Vorsorgetermins bekämpfen – denn die Wahrscheinlichkeit, mit einem negativen, also gesundem, statt eines positiven Befunds, also krankhaften, nach Hause zu gehen, ist immer noch sehr viel höher. Dieses Wohlgefühl, diese Entlastung nach der Untersuchung müssen wir in den Vordergrund stellen: frei und gesund.
Letzte Änderung: 29.06.2023
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