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Overtouched-Syndrom: Wenn jede Berührung zu viel ist

ArtikelLesezeit: 3:00 min.
Overtouched Syndrom: Gestresste Mutter mit Baby auf dem Arm

Bildnachweis: © stock.adobe.com / grooveriderz

„Bitte fass mich nicht an!“ – wenn jeglicher Körperkontakt zu viel wird, sprechen Experten vom Overtouched-Syndrom. Vor allem Mütter von Säuglingen und Kleinkindern sind davon betroffen. Das Gefühl, zu viel berührt zu werden, ist gar nicht selten. Sprechen Sie es unbedingt an, wenn es Sie betrifft.

Expertenbild

Die Expertin zum Thema

Heike Maier

Dipl.-Psychologin
ServiceCenter AOK-Clarimedis

Was ist das Overtouched-Syndrom?

Eine wissenschaftliche Einordnung mit festen Kriterien gibt es bislang noch nicht für das Overtouched-Syndrom. Doch viele stillende Frauen zum Beispiel kennen das Gefühl. Denn Kinder brauchen viel Nähe und fordern sie ein: Berührungen an der Brust beim Stillen, Patschehändchen beim Spielen im Gesicht, Kuscheln zum Einschlafen. Dieser ständige Körperkontakt kann für manche Eltern zu viel werden, sie fühlen sich „overtouched“, also „zu viel berührt“. 

Neben Eltern kann das Phänomen auch Menschen betreffen, die generell sensibel auf Reize reagieren. Psychische Störungen wie ADHS oder eine Autismus-Spektrum-Störung können das Empfinden noch verstärken.

Folgen von zu viel Berührung

Das Zuviel an körperlicher Nähe führt zu Gereiztheit, Erschöpfung und Stress. Auch Aggressionen können durch das Overtouched-Syndrom entstehen. Nicht selten fühlen Eltern sich körperlich und psychisch überfordert: Wie sollen sie das eigene Kind noch gut versorgen? 

Die Auswirkungen beziehen sich oftmals jedoch nicht nur aufs Kind. Betroffene meiden dann auch Körperkontakt zum Partner oder der Partnerin – ein Kuss zur Begrüßung, eine Umarmung oder Sex sind nicht denkbar. Neben Lust- oder Gefühllosigkeit kann auch ein Gefühl von Ekel vor Nähe oder Intimität hinzukommen. Auch freundschaftliche Berührungen empfinden manche bereits als unangenehm. So kann die eigene Erfahrung von zu viel Körperkontakt auch zur Belastungsprobe für Beziehungen werden und zu Streit und Abgrenzung führen. 

Wodurch entsteht das Overtouched-Syndrom?

Unabhängig von seiner Ausprägung ist das Syndrom eine natürliche Reaktion auf ein menschliches Grundbedürfnis: körperliche Autonomie. Zwei Faktoren tragen wesentlich dazu bei, dass ein Mangel an Selbstbestimmtheit entsteht. 

  • Zu viel Oxytocin 
    Durch Körperkontakt schüttet unser Gehirn das Hormon Oxytocin aus, das auch als Kuschelhormon bekannt ist. Eigentlich eine gute Sache, da es das Wohlbefinden stärken, Stress und Ängste reduzieren und die Paarbindung intensivieren kann. Durch die Zeit mit dem Baby ist der Körper allerdings mit Oxytocin überflutet – und der Effekt schlägt mitunter ins Negative um. Statt nach körperlicher Nähe ist der Wunsch nach Alleinsein groß. 
  • Zu wenig Selfcare
    Apropos Alleinsein: Fehlende Me-Time kann ebenfalls eine Ursache für das Overtouched-Syndrom sein. Wenn Eltern nur noch fürs Kind da sind und sich nicht mehr um sich selbst sorgen, fehlt es an Möglichkeiten, die Akkus wieder aufzuladen. Das eigene Körpergefühl leidet und der Kontakt zu anderen Menschen wird zur Belastungsprobe. 
Frau lehnt mit geschlossenen Augen an einem Baum und genießt die Sonne

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Was können Betroffene tun?

Wem bewusst ist, dass zu viel Körperkontakt ein Problem ist, hat die erste Hürde bereits genommen. Weitere Schritte können helfen, mit dem Overtouched-Syndrom besser zurechtzukommen, sodass sich die Empfindungen wieder normalisieren. 

  • Offen kommunizieren
    Vielen Betroffenen fällt es schwer, über ihr Leiden zu sprechen, weil sie sich schämen und Zweifel haben, ihrer Rolle als Mutter oder Eltern nicht gerecht zu werden. Doch klar zu sagen, dass Sie Abstand brauchen, schafft Verständnis und hilft dabei, gemeinsam Lösungen zu finden. 
  • Um Unterstützung bitten
    Dem Säugling die Brust zu verwehren, ist für stillende Mütter natürlich kaum möglich. Aber sie können Partner oder Partnerin, Familienangehörige oder Babysitter einbeziehen und Aufgaben abgeben, um wieder mehr Zeit für sich zu haben. 
  • Sich selbst etwas Gutes tun
    Regelmäßig Zeit für sich selbst zu haben, ist wichtig, um wieder Energie für Körper und Geist zu sammeln. Die Me-Time sollte nach eigenen Wünschen gestaltet werden: Ob Sport, Wellness, Hobbys oder Achtsamkeitsübungen am besten helfen, darf jede und jeder selbst entscheiden.
  • Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen
    Wenn zu der Überreiztheit ein Gefühl von starker Traurigkeit hinzukommt und die Freude verloren geht, ist es empfehlenswert, das Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin zu suchen.  

Tipp: gewaltfreie Kommunikation nutzen

Das eigene Overtouched-Gefühl anzusprechen, kann Überwindung kosten. Wichtig ist jedoch, seiner eigenen Wahrnehmung zu vertrauen und persönliche Grenzen zu setzen. Um niemanden vor den Kopf zu stoßen, kann die gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg helfen. Der amerikanische Psychologe hat einen Vier-Schritte-Plan konzipiert, bei dem Gefühle und Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Es geht um: Sehen, Fühlen, Brauchen, Bitten. 

  1. Beobachten: Schildern Sie wertfrei, was Sie sehen oder hören. (Das Baby sucht ständig den Kontakt zu mir.)
  2. Gefühl erspüren: Teilen Sie mit, was Sie in der Situation fühlen. (Durch den Körperkontakt empfinde ich Stress.)
  3. Bedürfnis benennen: Äußern Sie Ihr Bedürfnis und begründen Sie es. (Ich brauche Zeit für mich, um wieder Kraft sammeln zu können.)
  4. Sprechen Sie eine konkrete Bitte aus. (Könntest du bitte auf das Baby aufpassen, während ich mir Zeit für mich nehme?)

Letzte Änderung: 02.09.2024