Krankheiten äußern sich nicht immer gleich – Symptome sind von Patient zu Patientin unterschiedlich. Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione von der Universität Bielefeld erforscht, wie sich Alter, Geschlecht, Herkunft und die individuelle Lebenssituation auf Frauen und Männer auswirken – das ermöglicht in vielen Fällen erst die richtige Diagnose.
Universität Bielefeld
Prof. Dr. Oertelt-Prigione, warum haben Sie sich auf das Feld der Frauengesundheit spezialisiert?
Eigentlich habe ich mich nicht auf „Frauengesundheit“ spezialisiert – aber das ist ein gutes Stichwort, um zu erklären, worum es mir geht: eben nicht nur um Frauen, sondern um alle Geschlechter. Historisch gesehen gibt es zwar ein Informationsdefizit in der Medizin, das vor allem Frauen betrifft, weil zu wenig an Frauen geforscht worden ist, das bedeutet aber nicht, dass wir uns nun ausschließlich mit Frauen befassen müssen. Das große Ziel ist eigentlich, Stereotypen in der Medizin insgesamt abzubauen und die Versorgung für alle zu verbessern. Konkret bedeutet das, sich bei jeder Diagnose zu fragen, ob die Person, die vor mir sitzt, sei sie männlich, weiblich oder nicht-binär, eventuell auch eine Erkrankung haben könnte, die ich eigentlich geschlechtsbedingt erstmal nicht vermutet hätte.
Was war Ihre Initialzündung, sich im Bereich der geschlechtersensiblen Medizin zu engagieren?
Es war eigentlich keine aktive Entscheidung für das Fach „Geschlechtersensible Medizin“ – denn das gab es vor 20 Jahren noch nicht. Ich fand das Thema spannend, weil es medizinische, soziale und Gerechtigkeitsaspekte verbindet und so vielschichtig ist.
Fast alles in der medizinischen Lehre fußt auf dem männlichen Körper. Müsste nicht also nahezu jede medizinische Erkenntnis mit Blick auf die Frauen kritisch infrage gestellt werden?
Das muss ich relativieren: Es gibt nicht bei allen Erkrankungen Geschlechterunterschiede. Aber andrerseits können wir da, wo wir es noch nicht untersucht haben, auch nicht seriös sagen, dass es keine gibt. Wichtig für die heutige Lehre ist vor allem eine kritische Auseinandersetzung damit, wie bestimmte Daten einer Studie erarbeitet worden sind und die Erkenntnis, dass eine medizinische Aussage erst einmal nur auf die untersuchte Gruppe zutrifft – auf alle anderen Menschen aber vielleicht nicht 1:1 übertragen werden kann.
Die Studienergebnisse sind also auch in Bezug auf Männer kritisch zu hinterfragen, wenn sie in Alter, Körpergewicht, Konstitution nicht diesem „Idealmann“ entsprechen?
Genau, die historische Lehre basiert auf einem gesunden Idealkörper. Auch hier also wieder eine Stereotype. Die Frage, wie repräsentativ eine Studie überhaupt ist, wenn man nur junge gesunde Männer als Probanden hat, wird aktuell in der Medizin vielfach diskutiert. Denn wir wissen ja, dass viele unserer Patienten in höherem Alter sind, verschiedenste Arzneimittel mit möglichen Wechselwirkungen parallel einnehmen und unterschiedlichste Erkrankungen gleichzeitig haben.
Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf in der Diagnostik, um – nicht nur mit Blick auf die Frauen – „medizinische Gerechtigkeit“ herzustellen?
Die Praxis zeigt, dass nicht jede Diagnosemethodik überall gleich gut funktioniert: Das reicht von der Nüchtern-Blutzuckermessung über Stress-EKG bis hin zum okkulten Blutscreening im Darm. Viele dieser Tests funktionieren bei männlichen und weiblichen Körpern unterschiedlich gut, oft aufgrund der unterschiedlichen Physiologie. Wenn man das weiß und kritisch hinterfragt, kann man in der Diagnostik fallweise auf andere Methoden ausweichen.
Und wie steht es um den Nachholbedarf in der Therapie?
Hier ist es ein bisschen komplexer. Wir wissen, dass Frauen bei den meisten Arzneimitteln mehr Nebenwirkungen erleben als Männer. Das hat mehrere Ursachen, etwa physiologische: Frauen sind bei gleicher Körpergröße im Vergleich zu Männern häufig überdosiert, aufgrund von Faktoren wie unterschiedlicher Fett-Masse-Verteilung, verlangsamtem Metabolismus und unterschiedlicher Verstoffwechslung. Es wird zudem vermutet, dass Frauen tendenziell mehr über Nebenwirkungen berichten als Männer – und es deshalb so wirkt, als ob sie faktisch mehr Nebenwirklungen hätten. Das kann darin begründet sein, dass Frauen häufiger zum Arzt gehen als Männer. In Bezug auf die nicht-berichtenden Männer können auch Genderaspekte eine Rolle spielen, weil es bei manchen Männern noch gesellschaftlich weniger akzeptiert ist, über Nebenwirkungen zu reden und eine größere Hemmschwelle gibt, zum Arzt zu gehen.
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Wäre dabei nicht auch ein stärkeres Patientenwissen, gerade in Diagnose und Therapie, von Vorteil?
Sicher, Patienten sollten beim Arztbesuch immer fragen, inwiefern es eine Rolle spielen könnte, dass sie eine Frau oder ein Mann sind, in einem gewissen Alter sind und Vorerkrankungen haben. Wir sagen unseren Patientinnen: Fragen Sie nach, ob das Arzneimittel bei Ihnen als Frau gegebenenfalls anders dosiert werden muss. Und: Sie haben ein Mitspracherecht – was in der Medizin eigentlich per se gegeben ist, aber in der Praxis nicht immer genutzt wird.
Auch wir Mediziner sollten hinterfragen, ob wir nicht manchmal Dinge aufgrund des Geschlechts, des Verhaltens oder unserer eigenen Erwartungen auf Patienten projizieren – und inwiefern das die Behandlungssituation beeinflusst. Das erfordert Selbstreflexion, die unbequem ist und den Ansatz der geschlechtersensiblen Medizin mitunter unbeliebt macht.
Einige Erkenntnisse der gendersensiblen Medizin sind bereits etwas bekannter, darunter die Tatsache, dass Frauen andere Herzinfarkt-Symptome haben als Männer. Aber was ist weniger populär?
Bei vielen Erkrankungen, wo wir zunächst keine Unterschiede angenommen hatten, finden wir welche beim genaueren Hingucken. Bei neurologischen Erkrankungen kann die Symptomatik anfangs anders sein, bei Morbus Parkinson, bei Alzheimer. In der Onkologie werden zum Teil Unterschiede in der Molekularstruktur beschrieben, beim Magenkarzinom oder beim Darmkrebs etwa. Es geht immer darum, auch abseits der Norm zu forschen, zu denken und zu diagnostizieren.
Was geben Sie Ihren Studierenden mit?
Viele Entscheidungen in der Medizin basieren auf dem „Wenn-dann-Prinzip“. Konsequent danach vorzugehen, ist bei Notfällen sicher wichtig, um schnell zu einer Lösung zu kommen. Aber außerhalb von lebensbedrohlichen Situationen gilt der Appell, etwa bei anhaltenden Symptomen, obwohl gemäß Diagnose und Therapie keine mehr auftreten dürften, noch einmal neu anzusetzen. Der Patient sollte immer in allen Dimensionen seines Seins betrachtet werden: Geschlecht, Alter, Ethnizität, Behinderung und sozio-ökonomischer Status.
Letzte Änderung: 02.05.2023
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