Am 1.12. ist Welt-AIDS-Tag. Aufklärung über HIV braucht es aber nicht nur an diesem Tag. Wir haben einen Experten gefragt, wie heute ein gutes Leben mit HIV möglich ist und was wir alle dazu beitragen können.
Oberarzt und Leiter der Infektiologie und Immunologie (HIV), Universitätsklinikum Bonn
Vorstand der Aidshilfe Köln
Prof. Dr. Jürgen Rockstroh, Oberarzt und Leiter der Infektiologie und Immunologie (HIV) am Universitätsklinikum Bonn und Vorstand der Aidshilfe Köln, gehört zu den führenden deutschen HIV-Medizinern. Für sein Engagement gegen HIV und AIDS hat er 2017 das Bundesverdienstkreuz erhalten. Im Interview erklärt er, warum medizinische und gesellschaftliche Aufklärung zu HIV immer noch so wichtig ist.
Herr Prof. Dr. Rockstroh, was macht HIV mit dem Körper – und wie entsteht schließlich AIDS?
HIV ist ein Virus, das im Körper wichtige Immunzellen zerstört. Dadurch entwickelt sich eine Immundefizienz – oder Immunschwäche, wie wir das früher genannt haben. Bei Unterschreitung bestimmter kritischer Werte kann diese zum Wiederaufflammen von Erregern führen, mit denen sich der Körper schon einmal auseinandergesetzt hat, die dem Patienten damals aber gar keine oder nur vorübergehend Probleme bereitet hatten. Ist das Immunsystem jedoch derart geschwächt, können auf einmal Pilze, Bakterien, Parasiten und andere Erreger zu sogenannten AIDS-definierenden Ereignissen führen. Dazu gehören zum Beispiel schwere Lungenentzündungen, Abszesse im Kopf, Tuberkulose und einige Krebserkrankungen.
Ist die Diagnose HIV immer noch ein sicheres Todesurteil?
Das hat sich zum Glück geändert. HIV ist zwar in der Regel keine heilbare, aber eine gut behandelbare Infektion geworden. Bei früher Diagnose und dauerhafter Einnahme antiviraler Medikamente, haben Betroffene eine annähernd normale Lebenserwartung.
Wann ist eine Diagnose früh genug?
Früh genug heißt: Bevor ein AIDS-definierendes Ereignis auftritt. Wenn ein Patient zum Zeitpunkt der Diagnose schon eine schwere Infektion oder Krebserkrankung hat, dann hat das auch Einfluss auf seine Lebenserwartung. Ist er aber noch asymptomatisch, kann er rechtzeitig mit der Therapie beginnen. Dann passieren zwei wunderbare Dinge: Erstens wird die Vermehrung des Virus gestoppt, es fällt unter die Nachweisgrenze. Der Patient ist dann nicht mehr infektiös und kann niemanden mehr anstecken. Und zweitens erholt sich sein Immunsystem und er kommt in den Bereich einer annähernd normalen Lebenserwartung. Leider werden 53 Prozent aller HIV-Diagnosen in Europa zu spät gestellt.
Woran liegt das?
Für eine frühe Diagnose ist es unabdingbar, dass Sie sich regelmäßig testen, vor allem, wenn ein erhöhtes Übertragungsrisiko vorliegt. Viele wissen aber nicht, wo sie das machen sollen, oder haben Angst davor. Einige Länder führen deshalb jetzt Modellversuche durch und testen zum Beispiel in der Notaufnahme jeden, der nicht ausdrücklich widerspricht. Da finden sie eine ganze Reihe an HIV-Infektionen und daneben auch Fälle von Hepatitis B und C. Ich halte das für sehr sinnvoll. Es ist ein Fehler, dass sexuelle Gesundheit bei uns im ärztlichen Umfeld kaum thematisiert wird und in der Ausbildung keine große Rolle spielt. Wenn zum Beispiel ein Patient mit einer Gürtelrose, einer Virusinfektion oder anderen klinischen Zeichen für eine Immunschwäche zum Arzt geht, sollte dieser eine Sexualanamnese machen. So könnten viel mehr Erkrankungen früh erkannt werden.
Wo kann ich mich auf HIV testen lassen?
Zum Beispiel beim Hausarzt, in bestimmten Community-Einrichtungen, wie Checkpoints von Aidshilfen oder beim Gesundheitsamt. Seit einigen Jahren können Sie sogar HIV-Selbsttests in der Apotheke kaufen und zuhause machen. Das ist eine große Bereicherung, weil mit HIV immer noch eine ziemlich große Stigmatisierung einhergeht. Es führt dazu, dass viele zum Testen ungern in öffentliche Einrichtungen gehen. Die Selbsttests können allerdings auch mal falsch positiv sein, deshalb sollten Sie in jedem Fall einen zweiten Test zur Bestätigung machen.
Bei welchen Menschen tritt HIV am meisten auf?
Die Hauptgruppe der Menschen, die in Deutschland mit HIV leben, sind Männer, die Sex mit Männern haben. Da ist die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen Jahren allerdings deutlich gesunken. Das liegt unter anderem daran, dass viele sich regelmäßig testen lassen. Außerdem haben sie die Möglichkeit, sich eine Prophylaxe verschreiben zu lassen, wenn sie für sich ein erhöhtes Risiko für eine HIV-Übertragung wahrnehmen, etwa durch wechselnde Partner oder ungeschützten Geschlechtsverkehr. In anderen Gruppen nehmen die Zahlen allerdings zu, zum Beispiel unter Frauen, unter Drogenkonsumenten oder heterosexuellen Sexpartnern. Sie sind sich des Risikos häufig nicht so bewusst sind und lassen sich deshalb auch nicht testen. Außerdem befinden wir uns in einem Jahrhundert der Migration, in dem Menschen aus vielen Ländern nach Deutschland kommen. Der Hauptübertragungsweg weltweit ist heterosexuell.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es heute?
Es gibt verschiedene antivirale Therapieoptionen, die als Fixdosiskombination – also eine Tablette pro Tag – zur Verfügung stehen. Damit lässt sich die Virusvermehrung dauerhaft kontrollieren. Trotzdem wünschen sich viele Menschen, die mit HIV leben, Veränderung. Zum Beispiel, wenn sie in einer Wohnsituation sind, in der sie Angst haben, ihre Tabletten zu nehmen, weil andere dann erkennen, dass sie HIV haben. Dann werden neue Therapien bevorzugt, die alle zwei Monate in der Arztpraxis gespritzt werden und die nur ein bisschen wehtun. Das ist aber nicht für jeden etwas. Es gibt also noch ein paar Herausforderungen zu meistern, aber es tut sich weiterhin etwas in der Entwicklung der HIV-Therapie.
Wie weit ist die Forschung bei der Suche nach einem Impfstoff?
Einmal gab es einen Impfstoff, der eine 33-prozentige Schutzwirkung erbracht hat. Für eine Zulassung ist das viel zu wenig, aber es war ein Anfang. Eine große Hoffnung ist, dass mit der Entwicklung der Corona-Impfstoffe und der neuen Technologien – insbesondere der mRNA-Technologie – hier auch noch gute Ansätze für eine bessere Impfantwort zu finden sind.
Wie offen leben HIV-Patienten heute mit ihrer Diagnose?
Bei der Neudiagnose fragen sich immer noch alle: Wem sage ich das? Wie gehen meine Familie und meine Freunde damit um? Werde ich dann ausgegrenzt? Viele Menschen tun sich schwer, ihr Umfeld zu informieren. Es gibt in unserer Gesellschaft auch heute noch immer keine richtige Normalität im Umgang mit Menschen, die mit HIV leben.
AOK-Clarimedis
Medizinische Hilfe am Telefon.
Sind wir nicht alle aufgeklärter als noch vor 30, 40 Jahren?
Es ist immer noch nicht allen bewusst, dass sie sich nicht einfach anstecken können, wenn sie aus demselben Glas trinken. Oder dass sie sich nicht bei jemandem anstecken können, der unter der Nachweisgrenze ist. Und deshalb bestehen weiterhin Berührungsängste, Vorurteile und Stigmata. Es braucht also dringend weitere Aufklärung über HIV, Sexualität und damit verbundene Infektionsrisiken, auch in der Schule oder im Elternhaus. Da bewegt sich aber durchaus etwas. Vor allem junge Leute machen sexuelle Gesundheitsaufklärung, zum Beispiel über Social Media.
Welche Verantwortung sehen Sie bei den Medien und anderen öffentlichen Bereichen?
Dass HIV ein Todesurteil ist, stand anfangs im Zentrum der Berichterstattung. Es gab keine Behandlungsmöglichkeiten, es war nicht mal klar, wie die Übertragung stattfindet. Dann wurde HIV behandelbar und es hieß: Ach, jetzt gibt es ja Medikamente und eigentlich ist es ja nichts Aufregendes. Wenn nicht gerade ein prominenter HIV hat, ist das öffentliche Interesse gering. Aber es gibt durchaus gute Aufklärungskampagnen und es gibt die Aidshilfen. Es müssen nur noch mehr Gelder in Präventionsstrategien gesteckt werden. Wir dürfen uns nicht darauf ausruhen, dass HIV jetzt behandelbar ist. Wir müssen das Wissen um HIV lebendig halten, nicht nur zum Welt-AIDS-Tag. Die Tatsache, dass es so wenig Neuinfektionen gibt, verdanken wir ja wesentlich dem Umstand, dass wir uns mit dem Thema auseinandergesetzt haben.
Welches Verhalten wünschen sich Betroffene von Mitmenschen?
Die meisten möchten nicht bemitleidet werden, sondern wünschen sich einfach einen ganz normalen Umgang: Es ist eine chronische Infektion, die aber beherrschbar ist, so wie Bluthochdruck oder Diabetes. Sie können genauso leben, lieben und arbeiten wie jeder andere Mensch auch. Ja, sie wünschen sich vor allem Normalität. Und da können wir, glaube ich, alle solidarisch sein und unseren Beitrag leisten.
Letzte Änderung: 30.11.2023
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