Männliche Körper sind in der Medizin die Norm. Die Lehrbücher beziehen sich meist auf Männer und auch Medikamente wurden bislang vor allem an Männern getestet. Dabei zeigen Männer und Frauen oft unterschiedliche Symptome und Reaktionen auf Medikamente – auch bei gleicher Erkrankung. So steigt die Gefahr von Fehldiagnosen und lebensrettende Zeit verstreicht. Experte Prof. Burkhard Sievers erzählt im Interview, woher die Unterschiede kommen, warum Männer genauso von Gendermedizin profitieren wie Frauen und warum in Beipackzetteln nicht zwischen Männern und Frauen unterschieden wird.
Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Angiologie und Gendermediziner am Sana-Klinikum Remscheid, Inhaber der Praxis Cardiomed24 und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V.
Was ist eigentlich Gendermedizin?
Gendermedizin beschäftigt sich mit der geschlechtersensiblen Medizin – kurz: mit den Unterschieden zwischen Männern, Frauen und diversen Geschlechtern. Da wir über letztere aber noch wenig wissen, beschäftigen wir uns aktuell im Wesentlichen mit den Unterschieden von Mann und Frau in Hinblick auf Erkrankungen, Symptome, Diagnostik und Behandlungen. Die Gendermedizin kam in den frühen 1990er Jahren in den USA im Fachbereich Kardiologie auf. In Deutschland rückte das Thema erst etwa 20 Jahre später stärker in den Fokus. Doch während mittlerweile fast jede große amerikanische Klinik eine eigene Abteilung hat, die sich mit Gendermedizin auseinandersetzt, stehen wir in Deutschland immer noch relativ am Anfang.
Woran liegt es, dass männliche und weibliche Körper so unterschiedlich funktionieren und reagieren? Sind es nur die Hormone?
Tatsächlich spielen die Sexualhormone Testosteron und Östrogen eine sehr große Rolle. Sie haben Einfluss auf die Organfunktion, den Stoffwechsel und überhaupt auf die gesamte Funktionsweise, die auch den Unterschied zwischen Mann und Frau definiert. Darüber hinaus haben Männer und Frauen meist unterschiedlich viel Muskelmasse, eine andere Körperfettverteilung und generell einen anderen Körperbau. Mit der Größe des Körpers hängt auch die Größe der Organe zusammen. Diese unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen führen zu Unterschieden bei Erkrankungen, Symptomen und der Wirkung von Medikamenten.
Sie sagten, dass die Gendermedizin in der Kardiologie aufkam … Gibt es dafür Gründe?
Im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt es besonders deutliche Unterschiede zwischen Frau und Mann. Das Thema Gendermedizin wird klassischerweise mit dem Herzinfarkt in Zusammenhang gebracht. Typische Herzinfarkt-Symptome sind ein Druck- oder Engegefühl in der linken Brusthälfte und Schmerzen, die von dort aus in den linken Arm und Kiefer ausstrahlen. Das haben wohl alle schon mal gehört! Typisch sind diese Symptome allerdings vor allem für Männer. Bei Frauen zeigen sich hingegen häufiger auch Luftnot und Schmerzen, die in den Oberbauch, in den Rücken oder in die rechte Körperhälfte ausstrahlen. So werden Herzinfarkte oder auch andere lebensbedrohliche Erkrankungen bei Frauen häufig verkannt und zunächst orthopädisch oder eben gar nicht behandelt. Gerade bei Herzkrankheiten aber ist der Zeitfaktor enorm wichtig. Werden sie von Patienten nicht als solche wahrgenommen oder Fehldiagnosen gestellt, verliert man lebensrettende Zeit oder es entstehen ernstzunehmende Spätschäden.
Wo zeigen sich außerdem Unterschiede?
Unterschiede gibt es auch in der Häufigkeit von Krankheiten. Frauen haben beispielsweise öfter Autoimmunerkrankungen, also Erkrankungen, bei denen sich die Antikörper gegen die eigenen Zellen oder Organe richten. Dazu gehören rheumatoide Arthritis, Multiple Sklerose oder Schilddrüsenerkrankungen wie Hashimoto oder Basedow. Diese Erkrankungen können auch zu Symptomen wie Herzrhythmusstörungen oder Bluthochdruck führen, die dann oftmals wieder mit anderen Krankheiten verwechselt werden. Überhaupt werden bei der Risikoberechnung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen frauenspezifische Risikofaktoren komplett außen vorgelassen. Ein spätes Einsetzen der ersten Regelblutung, Komplikationen in der Schwangerschaft, Krebsarten wie Brustkrebs, Gebärmutterkrebs oder Eierstockkrebs sowie ein frühes Einsetzen der Wechseljahre sind beispielsweise wichtige und geschlechtsspezifische Risikofaktoren für Frauen. Und auch bei psychologischen Erkrankungen gibt es eine Lücke. Klassischerweise werden Frauen mit ADHS oder Autismus seltener oder zumindest deutlich später diagnostiziert als Männer, weil sie atypische Symptome zeigen oder diese besser maskieren können.
Geht es bei der Gendermedizin also vor allem um Frauen?
Nein, von Gendermedizin profitieren Frauen und Männer. Nehmen wir zum Beispiel Osteoporose: Der Knochenschwund wird vor allem mit Frauen assoziiert. Aber auch Männer haben Osteoporose, bei ihnen ist die Krankheit aber deutlich unterdiagnostiziert. Auch Depressionen zeigen sich bei den beiden Geschlechtern sehr unterschiedlich. Bei Frauen erkennt man eher die als klassisch definierten Symptome wie Antriebsarmut, Traurigkeit und schlechte Stimmung. Depressive Männer zeigen hingegen häufiger Erregung, Aggression und Suchtverhalten. Schaut man sich die Diagnose-Fragebögen an, kommen die eher männlichen Symptome aber überhaupt nicht vor. Gendermedizin darf nicht auf Frauengesundheit reduziert werden. Aber: Es gibt eben auch einen großen Nachholbedarf, was das Wissen um Erkrankungen bei Frauen angeht.
Der männliche Körper galt in der Medizin als die Norm und Arzneimittel wurden lange hauptsächlich an Männern getestet. Heute weiß man, dass auch Medikamente unterschiedlich wirken. Wird in der Entwicklung inzwischen darauf geachtet?
Das ist deutlich besser geworden. Inzwischen wird darauf geachtet, dass der Frauenanteil in Medikamentenstudien entsprechend hoch ist und die Erkenntnisse berücksichtigt werden. Was aber noch kaum berücksichtigt wird: Wie wirken Medikamente in den unterschiedlichen hormonellen Phasen im Leben einer Frau? Die Verträglichkeit und Verstoffwechslung kann sich sehr unterscheiden, je nachdem, ob sich eine Frau in der Pubertät, im jungen Erwachsenenalter, in der Menopause oder in der Post-Menopause befindet. Der Hormonstatus hat einen erheblichen Einfluss auf das ganze körperliche Zusammenspiel, doch wird in Studien fast nie untersucht. Hier gibt es einen großen Forschungsbedarf. Wir beobachten im medizinischen Alltag bislang nur, dass Frauen meist eine niedrigere Dosis brauchen und häufig andere und oftmals stärkere Nebenwirkungen auf bestimmte Medikamente haben als Männer.
AOK-Clarimedis
Medizinische Hilfe am Telefon.
Dennoch werden in Beipackzetteln keine unterschiedlichen Dosierungen angegeben …
In den Beipackzetteln gibt es meist eine Tageshöchstdosis, die nicht überschritten werden sollte. Oft gibt es dann noch Abstufungen für Kinder, Schwangere und Patienten mit Vorerkrankung. Manchmal wird auch nach Körpergewicht unterschieden. Doch es gibt keine Unterscheidung zwischen Mann und Frau – zumindest habe ich das noch nie in einem Beipackzettel gesehen. Das ist aber auch gar nicht so einfach. Wir können nicht sagen, dass für Frauen generell eine um X Prozent reduzierte Dosis gilt. Das ist sehr individuell und eigentlich müssten wir zukünftig noch weitergehen und die geschlechtersensible Medizin zu einer personalisierten Medizin weiterentwickeln, in der neben dem Geschlecht noch weitere Faktoren wie Körpergröße, Köpergewicht, Muskelmasse, Hormonstatus eine Rolle spielen.
Wird denn im Medizinstudium und in der Ausbildung von medizinischem Personal für das Thema sensibilisiert?
Bisher hat Gendermedizin im Medizinstudium, in der Ausbildung von Pflegepersonal und in der Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten in Deutschland und Europa kaum stattgefunden. Deshalb setzen wir uns in der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. intensiv dafür ein. Geschlechtersensible Medizin muss schon im Medizinstudium, in der Facharztausbildung und in der Pflegeausbildung vermittelt werden. Das muss in die Lehrpläne rein! Ob Kardiologie, Angiologie, Neurologie, Pneumologie oder Psychiatrie, um nur ein paar wenige zu nennen, das ist für alle Fachbereiche relevant! Und es muss in den einzelnen Fachgebieten Personen geben, die die Forschung und Lehre entsprechend vorantreiben und das Thema besetzen.
Was muss in den nächsten Jahren auf dem Feld der Gendermedizin noch passieren?
Ganz viel Aufklärung, ganz viel Bewusstsein. Es ist wichtig, dass das Thema als nicht als unwichtig abgetan wird. Das schafft man nur durch eine gute Ausbildung und Fortbildung für medizinisches Personal, aber auch durch einen Wandel in der Gesellschaft. Es braucht Medienaufmerksamkeit und Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung. Denn das Wichtigste ist, dass die Menschen selbst mehr Wissen erhalten – und im Ernstfall besser reagieren können.
Mehr zum Thema Gendermedizin gibt es in „Sievers Sprechrunde“ – zum Beispiel als Podcast oder Videos.
Prof. Dr. med. Burkhard Sievers
So heilt man heute
ZS-Verlag, Hamburg
Preis: 24,99 €
Frauenkörper sind anders als Männerkörper. Kein Wunder, dass sie oft andere Krankheiten entwickeln als Männer – zum Beispiel Rheuma oder Autoimmunerkrankungen. Männer sind dafür eher von Krebs betroffen. Männliche Körper sind aber in der Medizin die Norm. Die Lehrbücher sind ziemlich männerbasiert und selbst bei Studien zur Entwicklung von Arzneimitteln werden Untersuchungen vor allem an männlichen Mäusen vorgenommen. Was erstmal harmlos klingt, bedeutet für Frauen das Risiko falscher Diagnosen und möglicherweise sogar Therapien. Denn Männer und Frauen zeigen unterschiedliche Symptome und Reaktionen auf Medikamente – auch bei gleicher Erkrankung. Warum sich die Gendermedizin das zur wichtigsten Aufgabe macht, was Mann und Frau hier am deutlichsten unterscheidet, das bespricht Doc Caro in dieser Folge von „Auf Herz & Ohren“ mit dem Gendermediziner Burkhard Sievers.
Letzte Änderung: 22.12.2022
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