Abonnieren Sie den vigo-Newsletter. Wir halten Sie zu allen interessanten Gesundheitsthemen auf dem Laufenden!

Wir verwenden Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell, während andere uns helfen, diese Website und Ihre Erfahrung zu verbessern.

Tabuthema Lieblingskind: So gehen Sie besser damit um

ArtikelLesezeit: 3:00 min.
Frustriertes Mädchen sitzt auf dem Sofa, im Hintergrund stehen die Eltern

Bildnachweis: © stock.adobe.com / fizkes

Hand aufs Herz: Jede Mutter, jeder Vater hat sicherlich schon einmal darüber nachgedacht, ob es in der Familie ein Lieblingskind gibt. Und sich dann wahrscheinlich für seine Gefühle geschämt. Denn es scheint unmoralisch zu sein, eines seiner Kinder „lieber“ zu haben. Offene Gespräche über die individuellen Bedürfnisse in der Familie helfen. Pädagogin und Familienberaterin Dr. Martina Stotz erklärt, wie wir mit dem Lieblingskind-Thema entspannter umgehen können.

Expertenbild

Die Expertin zum Thema

Dr. Martina Stotz

promovierte Pädagogin
Foto: Katharina Steca

Warum ist das Thema Lieblingskind mit Scham verbunden?

Tatsächlich bevorzugen Mütter und Väter manche ihrer Kinder den anderen. Das haben wissenschaftliche Beobachtungsexperimente und Befragungen gezeigt. Und auch viele Erwachsene stellen beim Rückblick auf ihre Kindheit fest, dass sie entweder selbst ein solches Lieblingskind waren – oder aber das Geschwister eines Lieblingskindes. Die Forschung zeigt, dass es bei diesem Thema oft viele unterschiedliche subjektive Wahrnehmungen gibt.

Doch obwohl viele eine persönliche Erfahrung mit dem Thema Lieblingskind haben, gilt es nach wie vor als Tabu. Warum ist das so? „Viele Eltern schämen sich dafür, wenn sie für ein Kind mehr Zuneigung empfinden oder ein Kind gar ablehnen“, sagt Dr. Stotz. „Deshalb fällt es Eltern schwer, offen darüber zu sprechen.“ Sie hat allerdings in ihren Beratungen die Erfahrung gemacht, dass Eltern – wenn das Thema ohnehin schon auf dem Tisch ist – sehr offen dafür sind, gemeinsam herauszufinden, woher ablehnendes Verhalten einem Kind gegenüber kommt.

Ist es schlimm, ein Lieblingskind zu haben?

„Nein“, sagt die Expertin. „Vielmehr macht sich oft eine große Erleichterung breit, wenn Eltern ihre Gefühle annehmen, anstatt sich dafür zu verurteilen. Sie erkennen, dass die Gefühle gegenüber ihrem Kind nichts damit zu tun haben, dass sie ein Kind mehr lieben. Die Ursache liegt vielmehr in ihren eigenen unerfüllten Bedürfnissen.“ Wenn ein Kind die Eltern zum Beispiel nachts nicht schlafen lasse, könne es unbewusst dazu kommen, dass diesem Kind die Schuld für das unerfüllte Bedürfnis nach Schlaf gegeben wird. Sei das Schlafdefizit weg, löse sich auch die Wut auf das Kind wieder in Luft auf. „Konkret heißt das: Wenn Eltern sich um ihre eigene Bedürfniserfüllung kümmern, ist die Wahrscheinlichkeit viel geringer, dass Kinder unangenehme Gefühle auslösen. Dadurch sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Lieblingskind gibt.“

Warum haben manche Eltern ein Lieblingskind?

Die Gründe für das Lieblingskind-Phänomen sind unterschiedlich: Manchmal wird das Kind bevorzugt, das einem selbst sehr ähnlich ist. Deshalb ist es auch eher selten so, dass ein Elternpaar dasselbe Lieblingskind hat. Wichtig sei, sich als Paar ohne Vorwürfe und Scham darüber auszutauschen, sagt Dr. Stotz: „Oft hilft es schon, wenn die Mutter dem Vater sagt: ‚Ich bin gerade so genervt, weil Anton nicht auf mich hört.‘ Indem sie es ausspricht, wird sich die Mutter ihrer Gefühle bewusst, und der Vater erkennt, wie es seiner Partnerin geht.“

Durch solche Gespräche werde greifbar, warum ein Kind gerade viele negative Emotionen auslöst, und das Elternpaar könne gemeinsam einen Weg finden, die Bedürfnisse des „anstrengenden“ Kindes zu erkennen. Dr. Stotz gibt ein weiteres Beispiel: „Wenn ein Kind sehr oft laut schreit oder haut, sehnt es sich vielleicht danach, angenommen zu werden. Der Elternteil, der eher in der Lage ist, dem Kind Geborgenheit und Nähe zu schenken, kann dann dieses Bedürfnis stillen. Je nach Temperament des Kindes und der Eltern ist es manchmal für die Mutter oder den Vater leichter, ein bestimmtes Kind in der Familie zu verstehen. Deswegen lohnt sich eine offene Kommunikation immer.“

Familie liegt auf dem Teppich

Fragen zur Kinder-Gesundheit?

Alle Informationen zu den Vorsorgeuntersuchungen.

Wie sollten Eltern mit Schuldgefühlen umgehen?

Wer das nicht macht, bleibe häufig auch mit seinen Schuldgefühlen gegenüber dem Kind allein. „Die Befürchtung, als Mutter oder Vater zu versagen, kann Traurigkeit, Scham und Wut auslösen, und mit negativen Gedanken aus der eigenen Kindheit verknüpft werden. Hier kommen innere Glaubenssätze wie ‚Ich bin nicht gut genug‘ oder ‚Ich bin schlecht‘ wieder hoch. Das eigene Kind triggert also solche Gefühle, es ist aber nicht die Ursache.“ Es helfe, diesen Zusammenhang zu erkennen, die Gefühle anzunehmen und sich selbst gut zuzureden. „Sagen Sie sich: ‚Ich akzeptiere mich so, wie ich bin, mit all meinen Gefühlen, und tue mein Bestes!‘“

Wichtig sei auch, mit den Kindern ganz authentisch über die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu reden, und sich auch verletzlich zu zeigen und dies kindgerecht zu erklären. Gleichzeitig können Eltern etwas dafür tun, die Bindung zu den Kindern zu stärken, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse zu erkennen und auch zu respektieren, dass jedes Kind anders ist. „Eltern, die sich in ihrer Erziehung selbst kompetent und sicher erleben, neigen weniger dazu, ein Kind zu benachteiligen. Es lohnt sich also, die Erziehungskompetenzen im Umgang mit Geschwistern zu stärken.“

Ungerechtigkeiten fördern die Geschwisterrivalität

Ein ungleiches Verhalten den einzelnen Kindern gegenüber muss nicht per se etwas Negatives sein. Problematisch wird es allerdings, wenn es dauerhaft zu objektiven Ungerechtigkeiten kommt, die für ein Kind nicht nachvollziehbar sind, also wenn ein Kind das „schwarze Schaf“ der Familie wird. Das kann ein Kind verunsichern, dem Selbstwertgefühl schaden, die Rivalität und Eifersucht unter Geschwistern fördern und auffälliges Verhalten provozieren. „Daraus können sich im schlimmsten Fall Depressionen oder andere psychische Probleme im Erwachsenenalter entwickeln“, so die Expertin. „Hinzu kommt, dass das benachteiligte Kind sich häufig auch in anderen Beziehungskontexten zurückgesetzt fühlt, etwa in der späteren Paarbeziehung.“

Haben Kinder ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Eltern, sprechen sie es aktiv an, wenn sie das Gefühl haben, benachteiligt zu werden. Aber wie gehen Eltern am besten damit um? „Das sollten Eltern unbedingt ernst nehmen. Sie können etwa sagen: ‚Möchtest du mir sagen, wie du darauf kommst? In welchen Momenten fühlst du dich denn benachteiligt? Uns ist ganz wichtig, dass du dich geliebt fühlst. Was könnten wir denn machen, damit sich das ändert?‘ Damit signalisieren Sie, dass Sie die Bedürfnisse des Kindes ernstnehmen“, sagt Dr. Stotz.

Eltern können sich entschuldigen – auch bei erwachsenen Kindern

Wichtig sei, mit der ganzen Familie offen über die unterschiedlichen Sichtweisen zu sprechen und die Perspektive des anderen einzunehmen. Denn es könne für ein Nicht-Lieblingskind sehr heilsam sein, wenn es hört, dass auch das Lieblingskind unter seiner Rolle leidet. „Besonders wirksam ist es, wenn die Eltern sich für ihr Verhalten entschuldigen und aussprechen, dass sie beide Kinder lieben und manchmal überfordert sind mit bestimmten Situationen. Solche Aussprachen lohnen sich auch noch, wenn die Kinder längst erwachsen sind.“

Eltern können sich auch proaktiv davor schützen, überhaupt eine Lieblingskind-Haltung zu entwickeln, sagt Dr. Stotz: „Das ist realistisch, wenn Eltern ihre eigene Kindheit reflektiert haben, sie alte Muster aus der Kindheit überwinden und nicht unbewusst auf ihre Kinder übertragen. Um es klar zu sagen: Kinder sind nicht dafür verantwortlich, dass ihre Eltern angenehme Gefühle und erfüllte Bedürfnisse haben. Dafür müssen die Eltern selbst sorgen, selbst wenn ein Kind herausforderndes Verhalten zeigt.“

Mehr Erziehungstipps für (Geschwister-)Eltern gibt Dr. Martina Stotz in ihrem Podcast Leuchtturm sein – der Podcast für eine geborgene Kindheit und über ihr Instagramprofil @_dr_stotz_kinderpsychologie.

Letzte Änderung: 15.07.2024