Gewalt in den eigenen vier Wänden: Alle vier Minuten wird ein Mensch in Deutschland Opfer von häuslicher Gewalt. Dazu zählen nicht nur körperliche Übergriffe, sondern auch Demütigungen und Drohungen sowie die Ausübung von wirtschaftlichem Druck. Christine Brill, stellvertretende Außenstellenleiterin beim Weißen Ring e.V. erzählt im Interview, ab wann man von häuslicher Gewalt spricht und wie Betroffene geschützt werden können.
Stellvertretende Außenstellenleiterin Hamburg V (Süderelbe)
Weißer Ring e.V.
Häusliche Gewalt wird oft mit körperlicher Gewalt assoziiert. Betroffene können aber auch unter jahrelanger psychischer Gewalt leiden, ohne jemals geschlagen zu werden. Ab wann spricht man von häuslicher Gewalt?
Häusliche Gewalt bezeichnet grundsätzlich Gewalttaten zwischen Menschen, die in einer häuslichen Gemeinschaft leben – also in einer Partnerschaft oder der Familie. Meist ist es ein schleichender Prozess und beginnt oft mit vermeintlich unbedeutenden Dingen: „Ach, du brauchst doch keinen Schlüssel, ich bin doch zu Hause.“ „Wozu brauchst du ein Auto, du kannst doch meins nehmen.“ Das sind kleine Einschränkungen, die später in der Summe zur totalen Kontrolle und Überwachung führen können. Wir sprechen von der sogenannten Spirale der Gewalt, die sich dann im Laufe der Beziehung zuspitzt. Psychische Gewalt zeichnet sich vor allem durch Demütigungen, Einschüchterungen, soziale Isolation oder auch finanziellen Druck aus. Es ist oft ein permanentes Niedermachen: „Du kannst nichts, du bist nichts, und keiner, außer mir, will dich!“ Das Selbstbewusstsein der Betroffenen wird immer geringer, bis sie selbst an diese Lügen glauben. Oftmals folgt auf psychische Gewalt auch körperliche Gewalt. Nach dem ersten Mal sind die Täter dann vielleicht noch voller Reue und die Betroffenen verzeihen den vermeintlichen Ausrutscher. Nach einem größeren zeitlichen Abstand passiert es das zweite Mal. Und dann werden die zeitlichen Abstände meist immer geringer. Im schlimmsten Fall endet diese Gewaltspirale mit dem Tod.
Wer ist am häufigsten von häuslicher Gewalt betroffen?
148.031 Menschen wurden 2020 offiziell Opfer von Partnerschaftsgewalt. Die Dunkelziffer ist allerdings weit höher. Wir gehen davon aus, dass nur 20 Prozent der Fälle bekannt sind. In vier von fünf Fällen ist eine Frau betroffen. In meiner Arbeit habe ich fast ausschließlich mit weiblichen Opfern und männlichen Tätern zu tun. Häusliche Gewalt zieht sich durch alle sozioökonomischen Schichten. Der arbeitslose Alkoholiker prügelt genauso wie der angesehene Chefarzt. Hier können wir keine Unterschiede festmachen. Die Statistiken zeigen außerdem einen leichten Anstieg von häuslicher Gewalt im mittleren Lebensalter um die 50 Jahre. Doch viele Straftaten werden nicht zur Anzeige gebracht – oft aus Angst, aber auch aus Scham. Besonders für Männer als Opfer ist die Gewalterfahrung mit Scham besetzt und sie suchen sich wesentlich seltener Hilfe.
Gibt es denn klassische Warnzeichen?
Die Warnzeichen sind für viele erst rückblickend zu erkennen und nicht in der akuten Situation. Manchmal ist es lediglich ein komisches Gefühl, das die Betroffenen haben, oder sie stellen fest, dass erste Dinge plötzlich anders laufen. Der Partner ist vielleicht eifersüchtiger, aufbrausender, kontrollierender. Aber viele wollen die Beziehung nicht gleich aufgeben und glauben, dass sich das schon regeln wird. Vielleicht hat das Paar auch gerade erst geheiratet oder ein gemeinsames Kind bekommen. Selbst nach der ersten Gewaltattacke gehen die wenigsten Betroffenen sofort. Und auch wenn der Entschluss einmal gefasst ist, braucht es oft viele Anläufe bis sich Betroffene trennen. Das gilt insbesondere dann, wenn Kinder involviert sind.
Wie oft richtet sich Gewalt zu Hause gegen Kinder?
Die Kriminalstatistik aus 2021 verzeichnet 4.465 Opfer von Kindesmisshandlung, doch auch hier ist die Dunkelziffer hoch. In erster Linie werden die Taten in der Familie verübt. Es wird geschätzt, dass fünf bis zehn Prozent aller Eltern schwerwiegende körperliche Bestrafungen bei ihren Kindern anwenden. Doch auch, wenn die Kinder keine direkte Gewalteinwirkung erfahren, bleibt das Miterleben der Gewalt innerhalb der Familie nie ohne Auswirkungen. Kinder haben sehr feine Antennen und bekommen eine angespannte oder gefährliche Atmosphäre zu Hause immer mit. Häufig beziehen diese Kinder die Schuld auf sich und entwickeln Ängste oder andere Probleme. Wenn wir also wissen, dass der Vater die Mutter schlägt, gehen wir zunächst auch immer von einer Kindeswohlgefährdung aus. Wenn die Polizei in Hamburg zu einem Vorfall von häuslicher Gewalt gerufen wird und in der Familie Kinder leben, so wird die Polizei immer eine Anzeige einer Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt machen.
Was können Betroffene tun, wenn sie Gewalt erfahren?
Betroffene können sich an Vertraute wenden, sich Unterstützung bei Hilfsorganisationen holen oder die Polizei rufen. Hilfsorganisationen wie der Weiße Ring, die Opferhilfe oder viele andere beraten auch, ohne, dass es bereits zu einer Gewalttat gekommen ist. Außerdem helfen wir, wenn es darum geht, konkrete Schritte einzuleiten oder Fragen zu beantworten, zum Beispiel wie ein Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz gestellt werden kann. Ist jemand akut bedroht, sollte der Polizeinotruf (110) angerufen werden.
Selbsthilfe
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Was können Dritte – also Familie, Freunde oder Nachbarn – tun, wenn sie einen Verdacht haben?
Mein Rat ist, das Opfer immer direkt darauf anzusprechen. Es kann vorkommen, dass Betroffene den Verdacht verneinen, auch das muss man respektieren. Aber Sie senden damit dennoch ein wichtiges Signal. Nehmen Sie verdächtige Geräusche wie Geschrei oder Poltern in der Nachbarwohnung wahr und kennen das Paar, können Sie auch beide ansprechen, sodass der Aggressor weiß, dass er beobachtet wird – allerdings nur solange Sie sich selber nicht in Gefahr begeben. Sind Sie Zeuge einer klaren Gewalteinwirkung, sollten Sie immer die Polizei rufen.
Was muss sich ändern, um Opfern von häuslicher Gewalt noch besser zu helfen?
Es hat sich glücklicherweise schon viel getan – in der Gesellschaft, aber auch in der Rechtsprechung. Wir dürfen nicht vergessen, dass Frauen etwa noch bis Mitte der 1970er die Erlaubnis ihres Ehemannes brauchten, um arbeiten zu gehen. Da hat ein ganz anderes Klima geherrscht! Auch die Polizei hat inzwischen eigene Einheiten aufgebaut, die sich ausschließlich um häusliche Gewalt kümmern, und kann dementsprechend sensibel reagieren. Das drängendste Problem beim Schutz von Opfern ist jedoch der fehlende Wohnraum. Eine Wohnung zu finden, ist oft die schwierigste Hürde im ganzen Prozess. Doch: Es finden sich fast immer Mittel und Wege. Und haben sich Betroffene erst einmal dafür entschieden, wirklich zu gehen, sind die Erfolgsaussichten gut.
Letzte Änderung: 18.11.2022
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