Therapien mit Tieren werden immer beliebter. Insbesondere bei traumatisierten Menschen wirken Tiere häufig als Türöffner. Doch Hunde, Pferde und Vögel begleiten Menschen auch beim Trauern und Sterben. Aber was genau passiert da eigentlich in der Begegnung zwischen Tier und Mensch? Experte Gerd Thiel erzählt aus seinem faszinierenden Alltag in der tiergestützten Therapie.
Sozialpädagoge in der tiergestützten Therapie
Gründer von DogTher®
Gib dem Menschen einen Hund und seine Seele wird gesund, sagte schon Hildegard von Bingen über die Wirkung der Vierbeiner auf den Menschen. Gerd Thiel, seit 23 Jahren im Bereich tierunterstützte Therapie tätig, kann von unzähligen Erlebnissen erzählen, die das bestätigen. Er berichtet von Begegnungen mit traumatisierten oder psychisch kranken Patienten, mit verhaltensauffälligen Kindern, Trauernden und Sterbenden. Oder auch über Schulklassen, die durch regelmäßigen, spielerischen Einsatz von Hunden sozialkompetenter werden.
Da ist der 16-jährige Autist, der seine Eltern noch nie geküsst oder ihnen körperliche Nähe gegeben hat und über den Umgang mit einem Hund lernt, Zärtlichkeit zuzulassen. Oder der ältere Herr auf der Palliativstation, der lange nichts mehr essen wollte. Aber jetzt, wo er der freundlichen Mischlingsdame Paula löffelweise Joghurt reicht und erkennt, wie gut es tut, für dieses Wesen zu sorgen, wird er auch sich selbst gegenüber fürsorglicher. Und gewinnt zunehmend an Appetit.
Die Bereiche, in denen tierunterstützte Therapien zum Einsatz kommen, sind vielfältig. Die Organisationen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und entsprechende Ausbildungen anbieten, sind es auch. Fakt ist: Die Qualifikation als tiergestützter Therapeut oder tiergestützte Therapeutin ist nicht geschützt. Gerd Thiel, der nicht nur direkt am Patienten arbeitet, sondern auch Hundehalter mit therapeutischem, pädagogischem und seelsorgerischem Background für die Arbeit mit ihren Tieren fit macht, hat die Standards seiner Weiterbildungen patentrechtlich abgesichert und die Einsatzfelder von Koma-, Autismus-Spektrum-Störung bis hin zu Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Schulangst, Trauerbegleitung, Hospizbegleitung und Mobbing für seine Patienten individuell erarbeitet.
Mit insgesamt 35 Hunden und einem interdisziplinären Team aus aktuell 21 freiberuflichen Therapeutinnen und Therapeuten ist Gerd Thiel im ganzen Bundesgebiet aktiv. Immer mindestens zwei Therapeuten sind mit oft mehreren Hunden gleichzeitig im Einsatz. Und manchmal kommt sogar ein ganzer mobiler Therapieraum mit. Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal kam dieser zum Einsatz. Oder im Rahmen eines Projekts der Seelsorge der Bundeswehr, bei dem traumatisierte Soldaten und ihre Familien zehn Tage lang in unterschiedlichsten therapeutischen Bereichen mit den Hunden Kontakt hatten.
„Die Hunde waren ein besonderes Angebot“, erzählt Thiel, der nur ahnen kann, was so mancher Teilnehmer des „Projekts“ in Krisengebieten zuvor erlebt hat. Einer der Soldaten lief die ganze Zeit unruhig umher, Feldflasche und Messer am Gürtel. Ein Gespräch führen? So undenkbar. Aber da war die Mischlingshündin Paula, die vielleicht als Vermittlerin wirken konnte. „Der Soldat ging mit ihr dann in den Wald“, erzählt Thiel. Nach zehn Kilometern Fußmarsch mit dem Hund sei der schwer belastete Mann deutlich entspannter zurückgekommen. Und Paula?
Tierschutz ist natürlich ein Thema, so der studierte Sozialpädagoge Thiel, der kein Tier „begrenzen“ will, um „Menschen über Grenzen hinweg zu helfen“. Alle seine Tiere sind mit einem Tracker ausgestattet, im Zweifel findet man sie also. Grundsätzlich beginnen die Vierbeiner ihren Einsatz nur dann, wenn die Chemie mit den Klienten für die Therapeuten spürbar stimmt. Heißt: Hunde-Wechsel sind nichts Ungewöhnliches. Bei Paula und dem Soldaten war das aber kein Thema. Letzterer wurde in den Folgetagen beim intensiven Knuddeln mit der Hündin immer ruhiger. Und konnte schließlich etwas tun, was davor lange nicht mehr möglich war: sich mit seiner Frau unterhalten.
Der Wüstenbussard, den Gerd Thiel neben den Hunden mit einem Falkner gemeinsam im Einsatz hat, kommt in der Regel nur einmal zum Einsatz. Und zwar dann, wenn Angehörige sich symbolträchtig von einem Verstorbenen verabschieden wollen. Chira bekommt dann eine geschriebene Botschaft in die Fänge und trägt sie hinauf in den Himmel. Ein bewegender Moment, Abschied und Neubeginn in einem. Denn, ja, Chira kommt mit leeren Krallen zurück. Aber auch mit dieser unbändigen Kraft, die nur ein Wüstenbussard haben kann. Und diese besondere Energie, welche Tiere allgemein uns Menschen anbieten, sagt Thiel, scheint in den Menschen weiter und in der Tiefe zu wirken.
Tiere sind wie Türöffner, sagt Gerd Thiel und erzählt, wie Menschen plötzlich wieder Zugang zu ihren Emotionen bekommen. Oder auch, wie eine eben noch undenkbare zwischenmenschliche Nähe möglich wird. Weil: In Verlegenheitsmomenten gilt die Aufmerksamkeit einfach dem Vierbeiner. Und wie geht es dem in solchen Momenten? Gute Frage, findet Thiel und sagt dann, die Antwort beschreibe im Grunde den Wirkmechanismus der tierunterstützten Therapie. Tiere – von Hund über Alpaka oder Schaf bis Pferd – sind soziale Wesen, genau wie wir Menschen. Es gibt keine Nicht-Kommunikation. Bei Hunden, die sich als Jäger vergleichsweise schnell nähern, läuft der Prozess der Annäherung natürlich anders als bei Pferden, die Fluchttiere sind und damit vorsichtig.
„Ein Hund wird eher bei einem unruhigen Menschen selbst aktiv werden und rumhüpfen“, so Thiel. „Das Pferd dagegen ist auf Hab-acht, hält erst mal Distanz.“ In beiden Fällen aber fungiert das Tier wie ein Spiegel: Über das Verhalten des Vierbeiners bekommt der Patient Informationen über sich selbst. Und schon über kleinste Verhaltensänderungen kann dann in der Interaktion mit dem Tier Verblüffendes entstehen. Wärme, Vertrauen, manchmal tiefes Wohlgefühl.
Tatsächlich geht der Effekt der tiergestützten Therapie weit über das hinaus, was man beispielsweise von der Hippotherapie kennt, wo sich bei auf dem Pferderücken sitzenden Patienten Verkrampfungen und Spastiken lösen. Und auch die beruhigende Präsenz von Tieren, das nachweisliche Sinken von Blutdruck und Herzfrequenz oder die Ausschüttung des Glückshormons Oxytocin, reichen nicht aus, um die therapeutischen Erfolge zu erklären. „Das Geheimnis unserer Arbeit ist die dynamische Konstellation Patient, Therapeut und Tier“, erklärt Thiel. In Einrichtungen wie Krankenhäusern, Kliniken oder auch an Schulen arbeiten Fachleute stets Hand in Hand mit den Verantwortlichen vor Ort. Das Tier selbst ist kein Therapeut, sondern Medium und Hilfsmittel.
AOK-Clarimedis
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Das ist sehr unterschiedlich. Zuweilen können schon wenige Therapiestunden sowas wie ein „Booster“ für neue Energie im Alltag oder einen anderen Blick auf ein Thema sein. Nicht selten sind die Interventionen aber eher so etwas wie ein Anschieben weiterer Prozesse. Der traumatisierte Soldat hatte schon lange gespürt, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Aber erst durch den Kontakt mit Hündin Paula und das gezielte, therapeutische Setting konnte er sich das eingestehen und eine umfassende Therapie beginnen.
Letzte Änderung: 15.12.2022
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